Die wohl ungewöhnlichste Boygroup der Welt präsentierte ein angenehm schräges und umwerfend lebendiges Programm mit Piazzolla-Interpretationen und eigenen Liedern.
Zu Beginn eine kleine Rechenaufgabe: Als der Komponist Astor Piazzolla 1992 starb, war Klaus von Wrochem ziemlich genau doppelt alt wie Marius Peters jetzt. Wie hoch ist der Altersunterschied zwischen den beiden?
Wir nehmen Ihnen die Denkarbeit ab: Satte 50 Jahre trennen die zwei Kölner Musiker, aber sonst offenbar so gut wie nichts. Ähnlich, wie glücklich Verliebte es tun, erzählten die beiden bei ihrem Konzert in der Kulturkirche Ost von ihrer ersten Begegnung. Es muss musikalische Liebe auf den ersten Ton gewesen sein, denn eigentlich war Klaus drauf und dran, Marius‘ Auftritt zu sprengen. Ohne Ankündigung sprang er auf die Bühne und fiedelte mit. „Zum Glück kannte er das Stück“, sagte Marius. Und so beschlossen die beiden, diesem ersten Zusammenspiel noch viele weitere folgen zu lassen.
Sensibel und dynamisch
Nicht ohne Hintersinn hat das Duo den Komponisten Astor Piazzolla ins Zentrum seines Schaffens gestellt, live ebenso nachzuhören wie auf dem 2016 erschienenen Album Piaddolla. Die legendären Tangostücke des argentinischen Meisters sind wie geschaffen für das sensible Gitarrenspiel Marius Peters‘ und den dynamischen Bogenstrich Klaus von Wrochems. Das spartanische Straßenmusiker-Setup, in dem lediglich die Gitarre über einen tragbaren Amp kommt und selbst der Gesang ohne elektrische Verstärkung bleibt, passt in jeder Hinsicht hervorragend: zu den immer etwas verloren wirkenden melancholischen Melodien Piazzollas genauso wie zu der immer wieder beeindruckenden Akustik der Kulturkirche Ost, die eigentlich keiner technischen Unterstützung bedarf.
Das im Lauten wie im Leisen, im Schnellen wie im Langsamen, in der Interpretation wie in der Improvisation bestens eingespielte Duo nimmt sich bei seinen Konzerten alle Freiheit der Welt. „Ist euch vielleicht schon aufgefallen“, sagt der Geiger mit einem breiten Grinsen im Gesicht. „Wir halten uns nicht immer an die Noten. Zwischendurch flippen wir gern so ein bisschen aus.“ Es geht eben immer noch ein bisschen Piaddolla – und das ist gut so!
Quickfidel und wieselflink
Das funktioniert, weil die Rollen klar verteilt sind: Der quickfidele, pardon, Alte gibt mit flottem Strich, der auch mal knarzen und schmieren darf, Tempo und Richtung vor, der wieselflinke Junge folgt ihm mit traumwandlerischer Sicherheit selbst um unerwartbare Klippen. Marius Peters‘ trockener Kommentar dazu: „Piazzolla hält jung, was, Klaus?“
Solange Klaus von Wrochem weiter in der Art und Weise Vollgas gibt, muss er sich ums Alter nicht sorgen. Ganz frei machen allerdings kann sich offenbar auch ein Freigeist wie er nicht von bösen Gedanken: „Steckt mich nicht ins Heim!“ lautet der Titel des gelungenen Beatles-Covers „When I’m 64“. Auch wenn „Piaddolla“ draufsteht, ist also nicht nur Piazzolla drin. Von Wrochem bereichert das Programm mit eigenen Kompositionen in Degenhardt’scher Liedermacher-Tradition, Marius Peters mit keltischen Anklängen, zu denen ihn ein verregnter Wanderurlaub in Schottland inspiriert hat. Dazu kommen Coverversionen und Jazzstandards wie das ewig junge „Autumn Leaves“.
Heimlicher Höhepunkt: die Interpretation von „Scarbarough Fair“, eine Melodie aus dem 16. Jahrhundert, die Dank Simon & Garfunkel in den 1960er Jahren zu späten Welthit-Ehren kam. Marius Peters spielt zur Geige hauchzarte Flagolets, die die Gitarre klingen lassen wie eine Harfe. Grandios!
Die Zugaben stammen dann wieder aus der Feder Piazzollas. Nach mehr als zwei Stunden Konzert ist auch die letzte Frage, die noch bleibt, erschöpfend beantwortet: Weshalb bietet der Junge dem Alten nicht seinen Sitzplatz an? Gegenfrage: Wozu?
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